Nach-Blick: Wenn man in die Sonne schaut und die Augen schliesst, tanzen schwarze und rote Punkte über die Netzhaut – welche Nachbilder erzeugt die Moderne? Pietro Mattioli spannt sie kühn und klirrklar durch den Schau-Raum der Galerie, durch den Denk-Raum unserer Köpfe.
Kann unser Auge die Sonne nur sehen, weil es selbst sonnenhaft ist? Das fragten sich schon die alten Griechen und entwickelten darum herum eine ihrer vielen Theorien. Und dieses Basteln von Gedankengetümen wird eben nach dem schauenden Auge benannt („theorein“). In dieses Auge hinein blitzt und schneidet sich nun eine Wand aus gewelltem Blech, das eine Theorie der Wahrnehmung entfaltet und uns mit den Theoremen, den Lehrsätzen der Moderne konfrontiert. Ja, in jeder Falte des Blechs spiegelt sich eine andere Möglichkeitsform von Nachrichten, Schriften und Bildern.
Punkt, Punkt, Komma, Strich, fertig ist das Angesicht. Die Augen also: Zwei Punkte. Vielleicht sogar zwei Rasterpunkte, hineingestanzt mitten in unser Gesicht. Und vor diesen Augen nun tanzen – ein letztes Mal vielleicht – die Piktogramme der Moderne: Bilder aus Zeitungen von Naturkatastrophen, die Strommasten zu gewaltigen sterbenden Sauriern verformt, Ungetüme der Neuzeit, gebeugt von jener Natur, die die Moderne zähmen wollte, einsperren wollte in die klaren Formen des Bauhauses wie Gropius, bewachen mit Bunkern – dazwischen verlorene Menschen auf Filmstills,
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Nach-Blick: Wenn man in die Sonne schaut und die Augen schliesst, tanzen schwarze und rote Punkte über die Netzhaut – welche Nachbilder erzeugt die Moderne? Pietro Mattioli spannt sie kühn und klirrklar durch den Schau-Raum der Galerie, durch den Denk-Raum unserer Köpfe.
Kann unser Auge die Sonne nur sehen, weil es selbst sonnenhaft ist? Das fragten sich schon die alten Griechen und entwickelten darum herum eine ihrer vielen Theorien. Und dieses Basteln von Gedankengetümen wird eben nach dem schauenden Auge benannt („theorein“). In dieses Auge hinein blitzt und schneidet sich nun eine Wand aus gewelltem Blech, das eine Theorie der Wahrnehmung entfaltet und uns mit den Theoremen, den Lehrsätzen der Moderne konfrontiert. Ja, in jeder Falte des Blechs spiegelt sich eine andere Möglichkeitsform von Nachrichten, Schriften und Bildern.
Punkt, Punkt, Komma, Strich, fertig ist das Angesicht. Die Augen also: Zwei Punkte. Vielleicht sogar zwei Rasterpunkte, hineingestanzt mitten in unser Gesicht. Und vor diesen Augen nun tanzen – ein letztes Mal vielleicht – die Piktogramme der Moderne: Bilder aus Zeitungen von Naturkatastrophen, die Strommasten zu gewaltigen sterbenden Sauriern verformt, Ungetüme der Neuzeit, gebeugt von jener Natur, die die Moderne zähmen wollte, einsperren wollte in die klaren Formen des Bauhauses wie Gropius, bewachen mit Bunkern – dazwischen verlorene Menschen auf Filmstills, verloren in der roten Wüste von Antonioni, die hier schwarz-metallen gleisst: All das tanzt nun auf sechs Seh-Flächen verteilt vor unseren Augen, zerlegt in Rasterpunkte, riesig vergrössert und auf Blech gedruckt, das sich wellt wie eine zerknüllte Zeitschrift. Denn Zeitschriften gehören dem Müll der Moderne an, dem man nur noch nachtrauern kann. Genauso wie dem Buch, der Schrift selbst.
Ewiger als eine Pyramide, so sagten die alten Ägypter, währt ein Buch. Das Buch selbst ist das Haus der Ewigkeit. Wie Pyramiden, von oben gesehen, verteilen sich jeweils vier Spektren einer Farbe über die Titel der von Piatti gestalteten dtv sonderreihe: Angefangen von Jarrys Ubu, der mit seinem Schimpfwort „merdre“ die moderne Zerstörungslust überkommener Formen einläutet, über Apollinaire, bei dem der gemordete Dichter verbrannt, geblendet wird, bis zu Kraus‘ Letzten Tage der Menschheit – Abgesänge, auf die nun selbst ein melancholischer Nach-Blick geworfen wird. Und als Gegenbild prangt der Schriftzug peinture moderne auf der Fotografie eines Kunstbuches, leicht abgetragen und sexy wie eine alte Jeans – daneben ziehen sich weisse Schlieren von Mirò über unsere Netzhaut.
Und wir? Wir sitzen wie die drei präkolumbianisch anmutenden Figuren auf unseren Sockeln, etwas verloren, die Arme und Köpfe haben noch das Format von rechteckigen Büchern, aber nichts steht mehr darin, nichts auch auf den Armen, kein Tattoo, nur das blanke Elend.
Das Ohr des Affen bildet ein enigmatisches Fragezeichen. Jeder Betrachter wird ihm einen anderen Eindruck auf diesen Nachhall der „peinture moderne“ hineinhauchen. Ein Echo auf jene Zeit, als jedes Theorem noch wie bei Pasolini leidenschaftlich umkämpft wurde und es auf jede Frage eine Form, für jede Form eine Frage gab. Verbunden durch den Sehnerv einer Zeit, der nun gerissen ist.
Die disjecta membra der Moderne, sonnenhaft auf unsere Sehmembran gebrannt. Spielerisch gespiegelt im gleissenden Glanz einer strengen Geometrie der Melancholie.
Stefan Zweifel